Eine kleine Betrachtung des Gastes Norbert Meidhof
Im Café Mensch sitze ich gern an einem Platz mit möglichst breiter Übersicht und den Rücken frei. So kann der Tag beginnen.
Weil das Café momentan noch ziemlich leer ist, hängen beide Bedienungen an der Pralinentheke herum, drücken ihre Fettpranken auf die Glasscheibe und höhnen: "Habt ihr schon die Theke geputzt? He? Habt ihr schon die Theke geputzt?"
Das Lehrmädchen Martina bürstet das Weißbrotfenster aus.
Manche Kunden werden persönlich begrüßt. "Ei, Schnecke".
Langsam füllt sich der Genussraum Deshalb stoßen die Bedienungen nur noch von Zeit zu Zeit in den Verkaufsbereich vor, um sich was auf den Teller zu heben. Manchmal rufen sie nur: "Ein Yoghurttörtchen!"
Sobald sich die Kunden vermehren, vermehren sich auf wunderbare Weise auch die Verkäuferinnen. Scheinen sich in der Backstube gewärmt zu haben. Oder werden drin zu Sklavenarbeiten gezwungen. Sitzen in der Asche und entkernen Nüsse. Stampfen in der Milch, bis Sahne draus wird.
Der Besitzer eines Brillengeschäfts erzählt dem Lehrmädchen Martina einen Witz. Aber die wischt ihm eins aus und lacht nicht. Das ist der Besitzer des Brillengeschäfts gewöhnt und sucht sich ein neues Opfer.
Wo es zur Backstube geht, ist der Boden mit Kartons bedeckt, Kartons, die in die verschiedenen Filialen gehen und mit Schokoladigem gefüllt werden.
"Jetzt geht´s wieder an mit dem Durcheinander, dass einem schlecht wird", sagt die Thekengouvernante. Sie meint wohl den sich ankündigenden Weihnachtsfestkreis, der mit Elisenlebkuchen schon im August eröffnet wird.
"Fioretto Marzipan und Edelbitter fehlen in der Herschelgasse."
Mit den Anweisungsnotizen der Chefin in der Hand versucht die Gouvernante, Schwung in die Bude zu bringen.
"Martina, schauen Sie mal kurz. Da steht in der Chefin ihrer Doktorschrift das Wort Malind, können Sie das entziffern?"
"Ma-lind." Auch Martina ist ratlos.
Schließlich bleibt nur noch eine Sorte übrig und das ist Mandelschokolade von Lindt.
Schon zum zweitenmal spricht ein Herr vor, er sei auf der Durchreise. Scheinbar ein Losungswort, denn die Gouvernante packt wie beim ersten ohne weiteres eine Tüte mit Brötchen voll und überreicht sie freundlich.
Nachdem die Kartons gepackt sind, wird gleich auch Ordnung in die Regale gebracht, die umgefallenen Pralinenschachteln werden aufgestellt, komische kleine Schirmchen an ein Drehständerchen gehängt, daneben gibt´s Rumtöpfchen und als Gegenmittel Diabetikertrüffel.
"Gisela, ich verbind dich."
Keine Verletzung, nur ein Telefonanruf. Die Verkäuferin zischt verschwörerisch: "Dei Schwieschermudder."
Das Telefongespräch dreht sich um Feldsalat und kommt schnell zum Ergebnis: die Schwiegermutter besorgt ihn.
Yvonne wird mit einer Ladung Pariser in die Herschelgasse geschickt.
Einer Kundin ist ein Brot zu groß Daß sie es trotzdem kauft, ist dem Argument zu verdanken, sie könne es einfrieren.
An einem Tisch gibt´s Kaba. Lang nicht mehr gehört. Daß es das überhaupt noch gibt.
Dieses Zauberwort aus der Kindheit: Kaba. Ka - ba. KABA.
Dem unerträglichen "Schönen Tag noch", das die Bedienung automatisch mit dem Wechselgeld herausgibt, kann man nur zurückschimpfen: "Ebenfalls!"
Ein ebenfalls grantiger Kunde bringt eine Zellophantüte mit Brotrinden, reicht sie über die Theke, beschwert sich und droht, bis zum Gewerbeaufsichtsamt zu gehen, wenn das Brot weiterhin so verbrannt wäre. "Wir sind doch nicht in Polen!"
Am Nebentisch ein junger Mann, Typ Student, er referiert, der Puppenschiff-Faust sei zu episch, und er sei enttäuscht gewesen. Einer ihm gegenübersitzenden Schülerin hat´s ausgezeichnet gefallen. Den Student hat auch gestört, dass die Puppenspieler offen agieren, was wiederum der Schülerin besonders gut gefallen hat. Das sei ja gerade so interessant, einmal während des Spiels hinter die Kulissen zu schauen, den Student hat´s abgelenkt. Außerdem sei ihm der zweite Teil zu schnell gegangen, läge vielleicht auch daran, dass er zwischendurch eingeschlafen sei.
"So. Setz dich hin. Jetzt bist du zum ersten Mal in einem Café. Da kannst du heute Abend dem Papa sagen, wir waren in einem Café."
Eine junge Mutter weiht ihren vielleicht vierjährigen Bub ins Leben ein. Wie anrührend; sie feiert den Cafébesuch wie eine Erstkommunion. Der kleine Kandidat wird in die Gemeinschaft der Genußmeditierer aufgenommen.
"Was ist ein Café?"
Die Mutter bleibt geduldig.
"Da gibt es Kuchen und Kaffee und die Leute unterhalten sich. Oder lesen. Manchmal schreibt jemand. Wie der Herr dort drüben."
Ich bemühe mich, einen Schreibenden zu geben, der dem ersten Kaffeehaus-Eindruck eines Jungen gerecht wird. Heiter gelassen und doch fleißig, aber auch mit einer ernsten Verrücktheit, sozusagen geheimnisvoll schreibe ich diesen Satz. Der Bub soll sich sein Leben lang an den Schreibenden erinnern.
Der Bub bläst Blasen in seine Limonade.
Ein Herr von der Hospizgruppe legt dem Bäckerpriester ein Manuskript vor für einen Hospiz-Prospekt. Er sagt, es seien 36 Zeilen mit je 48 Anschlägen. Da ginge also auch der Albert Schweitzer mit 1020 Anschlägen noch drauf.
Der Herr von der Hospizgruppe plädiert für schwarzen Druck auf gelbem Papier, das habe die beste Signalwirkung. Maisgelb. So ein warmes Maisgelb.
Aber sie müßten sich beeilen, das Prospekt herauszugeben, weil die Malteser auch eine Hospizgruppe planten
"Die blöden Malteser. Alles müssen die nachmachen."
Der Bäckerpriester möchte noch ein Zitat von Sand-Sexüberie drin haben, aber das passt ja wohl jetzt nicht mehr rein. "Oder wir kürzen den Albert Schweitzer."
Unentschlossen werden die Blätter hin und her geschoben und die Zeilen gezählt.
Eine Frau am Tisch weiter hinten: "Ich toupier seit meinem 16. Lebensjahr."
Mit Genuß höre ich solche existenziellen Sätze.
"Ich toupier seit meinem 16. Lebensjahr."
Da stell ich mir gern vor, jeder Mensch dürfte nur einen Satz sagen. Nur einen einzigen Satz. Als Summe, als Extrakt seines Lebens. Was gäbe das für ein Bedeutungs-Gewabbel und Tiefsinnsgeschleim. Was für ein Aufbauschen! Und wie erfrischend wirkte da so ein Satz: "Ich toupier seit meinem 16. Lebensjahr."
Eine andere erzählt was von ihren vielen Wirbeln, die sie mit Festiger bändigt. Und mit Gel und mit Spray.
Nicht zu verstehen ist eine Geschichte mit Haarwasser und Geschehnisse nach dem Waschen. Das Resümee hör ich wieder deutlich: Sie hat ihren Stil ihren Haarbedingungen angepasst.
Die eine der beiden Frauen hat schwarze Haare auf Ohrläppchenlänge, den Nacken modisch ausrasiert, sie trägt als Schmuck einen riesigen Ohrring, dass man einen Papagei hineinsetzen könnte. Die andere hat einen roten Wuschelkopf und grüne Kleidung. Bei Rothaarigen hab ich immer den Eindruck, die ziehen das Grün magnetisch an. Grüne Augendeckel, grüne Brillen, Jacken und Rucksack in Grün, sogar grüne Lippen sind nichts Besonderes. Bei Rothaarigen nichts Besonderes. Und wenn man genau hinschaut, wächst überall auf der Haut ein grüner Flaum.
Eine Familie mit Buggy setzt sich dazwischen.
Das hab ich aufgeschrieben. Wenn ich mit meinen Autoren-Ohren einen verheißungsvollen Tisch anpeile und dazwischen installiert sich so ein Störsender. Eine Familie mit Buggy ist ein besonders hartes Geschütz, denn Buggy bedeutet Gequengel. Das Wort Lockenkopf dringt noch durch und Dauerwelle, die mit Essig (?) (Dressing?) behandelt wird, sie streifen noch mal die Wirbel-Problematik, dann wird alles übertönt von einem Aufruhr am Stammtisch der 93-jährigen Mensch-Oma, die gerade zwei eintreffende Freundinnen begrüßt. Es geht um kalte Füße. Sie habe kalte Füße, sagt sie, "immer eiskalte Füß". Dann zählt sie ihre Enkel auf und verheddert sich in ihren Urenkeln.